Stau auf der Öppet Spår
Stau. Das musste ja so kommen. Denn weniger als ein Kilometer nach der Startlinie geht es gleich mal 200 Höhenmeter bergauf. So steil, dass auch gute Langläufer ausgrätschen müssen. Kaum hat man also angeschoben, schon rutscht man dem Vordermann auf die Skienden. Langsam, gaaaaanz langsam geht, rutscht, stapft man vorwärts. Zumindest, wenn man so weit hinten startet wie unsereiner.
Aber wir haben Glück, geplantes Glück. Wir stauen nicht mit 16.000 anderen Langlauf-Adepten, wir stauen nur mit 9000. Denn wir starten bei der Öppet Spår. Die „offene Spur“ findet jeweils am Sonntag und Montag vor dem eigentlichen Vasaloppet statt. Sonntags gehen etwa 12.000 Leute an den Start, Montags nur 9.000. Ansonsten ist alles gleich: das unangenehm frühe Aufstehen, um zum Start zu kommen, die 90 Kilometer lange Strecke, die blendend gute Organisation, die Verpflegung unterwegs mit der legendäre Blaubeersuppe – sowie natürlich die Anstrengung… Offene Spur heißt dieses Rennen deshalb, weil nicht alle Teilnehmer genau gleichzeitig starten, sondern zwischen sieben und acht Uhr ein Startfenster von einer Stunde offen steht.
1 Stunde und 3 Minuten für 3 Kilometer
Eigentlich hatten wir, eine Gruppe von fünf langlaufbegeisterten Freunden, geplant, erst mal die große Masse in die Loipe gehen zu lassen und dann gemütlich hinterher zu laufen. 90 Kilometer gegen reichlich Zeit zum Überholen. Nur zeigte das Thermometer in dem riesigen, von Flutlicht erhellten Startgelände im kleinen Skiort in Sälen – 20° C an. Eine Temperatur, die wenig zum Warten einlädt… wir brauchen 1 Stunde und 3 Minuten für 3 Kilometer.
Wer nicht zum ersten Mal antritt oder sich zuvor schlau machte, trägt eine alte Jacke oder einen alten Pulli, den man dann an der ersten Verpflegungsstation entsorgt. Ich habe mir eine große Mülltüte drübergezogen. Sieht zwar nicht eben schick aus und ich bemerke auch aerodynamische Defizite, aber sie erfüllt ihren Zweck.
Nach drei Kilometern erreicht man den höchsten Punkt der Strecke. Ich erinnere mich genau an einen ersten Vasaloppet 2002. Wir waren eine Gruppe von Leutenaus der Sportartikelbranche. Erst in jenem Winter hatten wir mit dem Langlaufen begonnen – der Vasalauf bildete das große Ziel. Uns war klar, dass wir zu den langsamsten im Feld zählten. Um niemanden zu behindern, starteten wir hinten, gaaanz weit hinten als Allerletzte. Meine Zwischenzeit bei Kilometer 3 betrug damals eine Stunde und drei Minuten! Langsamer als jeder Spaziergänger mit Hund… Jetzt sind es „nur“ 32 Minuten.
Der Mühe Lohn
Die Verhältnisse heute sind perfekt. Es liegt genug Schnee. Die Loipe ist vorbildlich präpariert, fest und schnell. Die Wettervorhersage verspricht Temperaturen unter dem Gefrierpunkt für den gesamten Tag. Manfred, unser schnellster Mann, war in seiner Jugend im Verein aktiv und richtig gut. Er will eine schnelle Zeit erreichen. Gestern und vorgestern beschäftigte er sich den ganzen Tag mit der Präparierung seiner Ski. Er hat gefühlte 25 Paar zur Auswahl dabei. Sein emsiges Treiben unterbrach er nur, um sich auf dem Handy die aktuellste Wettervorhersagen und Wachstipps anzuschauen. Wieder und wieder rutschte er die drei Höhenmeter vom Ferienhaus runter auf den zugefrorenen See. Welcher Ski gleitet am besten? Seine Mühe wird sich lohnen: Nicht nur als schnellster von uns, sondern als schnellster Deutscher an diesem Tag wird Manfred nach 5h18 die Ziellinie in Mora überqueren.
Wir anderen laufen mit weniger hohen Ambitionen und treiben ergo auch weniger Aufwand. Nicole ist mit einem Madshus-Ski mit IntelliGrip unterwegs. Anstatt Steigwachs oder Schuppen gibt es in Steigzone ein Stück Steigfell. Sehr praktisch: man kann nie verwachsen. Auch Nicole ist mit dem Gleiten ihres Ski zufrieden: „Ich war bei den Abfahrten nicht langsamer als andere Leute um mich herum.“ Heidi, Stone und ich haben in der Steigzone „Grip Tape“ aufgeklebt. Ebenfalls eine sehr gute Wahl. Auch wenn es mir im Lauf des Rennen so vorkommt, als ließe der Stieg etwas nach – im Ziel werde ich sehen, dass immer noch Schnee dranklebt. Es lag eher an meinen nachlassenden Kräften.
Pulsmesser oder Bauchgefühl?
Mit gutem Grund… Mein Ziel lautete unter acht Stunden – eine Dreiviertelstunde schneller als meine beste Zeit. Nachdem ich also den höchsten Punkt bei Kilometer 3 hinter mich gebracht hatte, schaute ich nicht auf meine Pulsuhr, sondern hörte auf mein Bauchgefühl. Ich lief ein Tempo, von dem ich glaubte, es etwa über acht Stunden halten zu können. Auf der Hälfte der Strecke schaute ich wieder auf die Uhr und staunte nicht schlecht. Zwischenzeit nach 45 Kilometern: 3h30. Aber sieben Stunden? Das habe ich nicht drauf – zu alt, zu unfit, und auch nicht wirklich erfahren. Oder doch?
Ich beschloss bis Kilometer 60 dem Bauchgefühl folgend weiter zulaufen und dann zu entscheiden. Dort lag ich immer noch genau im Unter-7-Stunden-Plan. Jetzt wollte ich es schaffen. Einfach den Schnitt von 13 km/h halten. Ab jetzt schaute ich bei jeder Zwischenzeit auf den Garmin. Immer schwerer wurden Arme und Beine. Immer schlechter der Abdruck. Immer steiler jeder noch so kleine Anstieg. Ich kann den Schnitt halten. Aber bis zum Ende? Weiter Till, weiter.
Was für ein geiler Tag! Langlaufen vom Feinsten! Nur lachende Gesichter um mich herum. Personal best. Ein langlaufeuphorisches Land. Das Leben ist schön. Ich werde mich jetzt eine ganze Weile an meinen Glückshormonen laben.